Verdichtung und Leere – was für eine eigenartige Polarität

 

Als die „Auckland Choral Society“ – einer der bekanntesten und ältesten Chöre der südlichen Hemisphäre – mich mit der Komposition einer weiteren Orchestersuite nach „Waves upon Waves“ beauftragte, fiel mir augenblicklich der Titel „Space beyond Space“ ein, nichtsahnend, dass dieser Titel mich und meinen Kompositionspartner Johnny Bertl auf eine Reise in bisher nicht betretene Bereiche führen sollte. Ursprünglich war die Fertigstellung des Werkes für November 2018 geplant, doch plötzlich wurde das Projekt auf 26. Juli 2018 vorverschoben und mit einem Mal standen wir unter enormen Zeitdruck.

Bald wurde uns klar, dass wir nur dann ein bahnbrechendes Werk schreiben können, wenn wir uns gegen allen äußerlichen Zeitdruck voll in die Erfahrung des Zwischenraums und der damit verbundenen inneren Stille einlassen. Ständig waren wir damit beschäftig, wie dieses Werk den Zuhörern eine direkte Hörerfahrung von Raum vermitteln können wird. Diese Reflektion führte uns zum Verfassen von Texten, die unmittelbar aus unserer Meditation, dem Komponieren, entstand. „Ubi nihil est – Ibi omnia sunt“ war unsere erste tiefere Einsicht in das Mysterium von Raum und wir entschlossen uns, den Chor dieses Koan zu einem hypnotischen Trommelschlag rezitieren zu lassen: „wo nichts ist, ist alles“.

In Neuseelands Natur ist die Raumerfahrung allgegenwärtig

 

Bei einer Wanderung durch die unberührte Natur Neuseelands ist die Erfahrung von Zwischenraum ständig präsent. Glücklicherweise konnten wir uns vor dem Konzert Zeit nehmen, um die Musik innerlich wirken zu lassen und ihren Zusammenhängen nachzugehen.

Raum, die Leere zwischen Allem – was für ein Mysterium! Er ist das Einzige, was Alles mit Allem verbindet. Zugleich aber ist er so allgegenwärtig, dass er unseren Sinnen ständig entgleitet. Schaut man in den nächtlichen Himmel Neuseelands, dann tun sich Myriaden von Sternen auf, die unsere Aufmerksamkeit anziehen. Wie aber erfassen wir das, was „nicht“ ist, was dazwischen oder dahinter ist?

Auf den Wanderungen entstanden einige Modifikationen unserer musikalischen Arrangements. Je näher die Performance rückte, desto klarer wurde uns, dass eine derart komplexe polyrhythmische Musik noch nie zuvor mit einer so großen Besetzung realisiert wurde. Wie werden Chor und Orchestermusiker auf diese Herausforderungen reagieren? Wie wird es unserem Dirigenten Uwe Grodd gelingen, die vielen Schichten unterschiedlicher Rhythmen zu einer klingenden Einheit zu verbinden? Mit jedem Tag stieg unsere Neugierde auf die Erfahrungen, die wir in den Proben machen würden.

 

Unsicherheit, Neugierde, Staunen und schließlich ein Lächeln

 

Als alle 230 Musiker zum ersten Mal zusammenspielten, war es – gelinde gesagt – ernüchternd. Eine Chorkomposition, in der die Sänger von einem anderen Grundpuls getragen sind, als die Orchestermusiker und die Perkussionisten, kann entweder genial oder fürchterlich sein. Johnny und ich sahen uns etwas verzweifelt an. Wir hatten soeben erlebt, was passiert, wenn in der Ausbildung von Musikern eine Komponente vernachlässigt wird: Musik entsteht aus Hörbarem, aber auch aus dem Raum, in dem sich alles gestaltet und abspielt. Eben weil die Erfahrung dieses spürbaren Hintergrunds in kaum einer traditionellen Musikausbildung vermittelt wird, fangen Musiker hilflos zu zählen an, was die rhythmische Orientierung weiter erschwert. TaKeTiNa ist ein Prozess, der diesen Hintergrund physisch erlebbar macht und dadurch Musikern zu einer ungewöhnlich ausgebildeten rhythmischen Orientierungsfähigkeit verhilft.

Wir schauten Uwe Grodd an, der erstaunlich ruhig durch die verschiedenen Sätze der Orchestersuite führte, auch wenn die Musiker viele Zusammenhänge noch nicht erfassen konnten. Als allerdings die offensichtlichen rhythmischen Fehler für die wirklich hervorragenden Musiker des Auckland Philharmonia Orchesters bis zum Ende der Probe bestehen blieben, waren wir plötzlich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee sein würde, „Space beyond Space“ zwei Tage später in der Auckland Townhall aufzuführen.

 

Das Zusammenwirken von Raumempfinden und Druck

 

Das Proben mit einem großen Orchester hat seine eigenen Regeln! Auch wenn etwas nicht funktioniert, besteht keine Chance, die Probezeit dafür zu verlängern. Nur fünf Minuten Überzeit würden gravierende finanzielle Konsequenzen haben. Für Johnny und mich bedeutete das enormen Druck. Allmählich begannen wir, die mentale Strategie zu verstehen, mit der Uwe Grodd hier arbeitete: in der ersten Probe präsentierte er dem Chor, dem Orchester und den Perkussionisten das rhythmische Material, auch wenn sie dieses noch nicht wirklich erfassen konnten. Dann erarbeitete er in Zusammenarbeit mit uns Komponisten einen Blueprint, in dem alle schwierigen Teile erfasst werden konnten, schließlich formten wir damit die Vorgehensweise für die nächste Probe. In sehr langsamem Tempi baten wir die Streicher und das Marimba, die rhythmische Spannung zu den Oboen, Flöten und Hörnern darzustellen und plötzlich begann Selbstorganisation zu greifen und die Teile fügten sich zu einem neuen, bisher ungehörten Ganzen. Uwe Grodd vermittelte in seinem Vorgehen das, was das zentrale Thema des Werkes darstellt: das Gefühl von Raum. Als sich die Teile nach und nach zusammenfügten, entspannten sich die Gesichter und ein Lächeln machte sich auf den Lippen der Musiker breit. „Das ist wirklich neue Musik“, lautete die Aussage eines Musikers.

 

Der Moment der Realisierung

 

Für die Vorbereitung des Konzerts waren nur zweieinhalb Proben angesetzt! Es liefen zwar viele schwierige Passagen in den letzten Proben gut, doch würde es auch dann funktionieren, wenn das Publikum das Werk zum ersten Mal zu hören bekommt?

In dem Moment, als das Konzert begann, war sie jedoch da: die Gleichzeitigkeit von Spannung und tiefem Raumerlebnis. Als der „Prolog“ – der erste Satz des Werkes – zu klingen begann, meinte man plötzlich, sich in einem Ritual zu befinden, in dem eine übergeordnete Kraft zu wirken beginnt. Die Klangintensität, die aus Orgel, einem riesigen Chor, einem vollen Orchester und acht Perkussionisten entstand, war tief bewegend.

Nach einem gewaltigen Höhepunkt im letzten Satz, in dem sich alle zu einem großen Rhythmusgenerator verbunden hatten, wurde die Musik nur durch ein pianissimo im Chor fortgeführt: „omnia – omnia – omnia“ – wie ein Raumschiff, das langsam abhebt – dann einige Momente tiefe Stille, bevor das Publikum mit minutenlangem Beifall und Jubeln reagierte, das in dieser Form ungewöhnlich für eine renommierte klassische Konzerthalle war. Kam diese Reaktion, weil wir so gut spielten? Wohl eher, weil die Zuhörer von einer völlig neuen Erfahrung im Innersten berührt waren und sie in dieser Intensität ausdrückten.

Im Moment arbeiten wir an Videos des Konzertes, die hoffentlich zumindest teilweise die Raumerfahrung für all diejenigen eröffnen können, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten.